Essaytext - Peter Weibel
Peter Weibel: Kunst als K hoch 8
Eine Korrektur


Einleitung der ausstellungsbegleitenden Broschüre "bit international. [Nove] tendencije – Computer und visuelle Forschung, Zagreb 1961–1973", 2te veränderte Auflage, ZKM | Karlsruhe: 2007

Seit langem war es ein Desideratum, sich der erstaunlichen Ausstellungsreihe Neue Tendenzen zu widmen, die 1961 in Zagreb ihren Anfang nahm. Für die Ausstellung, des ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, die in Kooperation mit dem MSU | Museum für zeitgenössische Kunst Zagreb und der Neuen Galerie Graz am Landesmuseum Joanneum entstanden ist, wird ein spezifischer Aspekt zum Ausgangspunkt der Darstellung der Konzepte und Projekte der Neuen Tendenzen gewählt: die visuelle Forschung mit dem Computer, die 1968 in Zagreb begonnen wurde. Die Ausstellung erschließt eine unbekannte Quelle, um die Geschichte der Entstehung der Computerkunst neu zu erzählen. Nach 1945 berief sich die Neo-Avantgarde auf mehrere Quellen der Vorkriegs- und Zwischenkriegskunst. In der Hauptsache auf die Abstraktion in Malerei und Skulptur, aber auch auf Dadaismus und Surrealismus, auf deren Maschinenästhetik, Objekt und Aktionskultur. Nach 1945 reüssierte mit Abstraktem Expressionismus, Informel, Tachismus vor allem die expressive und spirituelle Seite der Abstraktion. Der rationale Zweig der Abstraktion, der beispielsweise 1920 mit dem "Konstruktivistischen Manifest" von Gabo und Pevsner begann und sich über die geometrische Abstraktion von Abstraction-création (1931–1937) weiterentwickelte, erlebte Ende der 1950er Jahre in Europa seine entscheidenden Manifestationen.

Max Bill, selbst Mitglied von Abstraction-création, publizierte 1944 die Zeitschrift abstrakt konkret und organisierte eine gleichnamige Ausstellung. Ab 1952 war er Leiter der Hochschule für Gestaltung in Ulm, die das Programm des Dessauer Bauhauses fortsetzte und der viele Künstler und Mitwirkenden der Neuen Tendenzen verbunden waren. Almir Mavignier studierte in Ulm, Theoretiker wie Max Bense und Abraham Moles unterrichteten dort. Am Werk Max Bills, der selbst nicht an den Neuen Tendenzen teilnahm, lassen sich die kunsthistorischen Voraussetzungen ablesen, die in den 1950er Jahren geschaffen wurden. Bill bevorzugte den Ausdruck 'konkret' statt 'konstruktiv', da er die Form nicht durch einen Abstraktionsprozess aus der Realität ableitete, sondern in der Tradition der geometrischen Abstraktion aus dem Geist konstruierte. Er sagte: "die kunst kann das denken vermitteln in einer weise, daß der gedanke direkt wahrnehmbare information ist." Aus der geometrischen Abstraktion, der konkreten Kunst und dem Konstruktivismus entwickelten sich um 1960 in ganz Europa die Neuen Tendenzen, die als Zero, Op-Art oder kinetische Kunst rasch in die Kunstgeschichtsbücher eingingen. Erstaunlicherweise war Zagreb eine der wichtigsten Plattformen für den Austausch dieser neuen Ideen, die geschichtlich so außerordentlich wirksam wurden. Neben den Gründungsvätern der Ausstellungsreihe, Almir Mavignier sowie Matko Meštrović und Božo Bek, übte die Groupe de Recherche d'Art Visuel (GRAV, 1960–68) – Horacio Garcia-Rossi, Julio Le Parc, François Morellet, Francisco Sobrino, Joël Stein und Yvaral, der Sohn von Victor Vasarely – wesentlichen Einfluss aus, das macht der Aufsatz von Jerko Denegri in diesem Buch deutlich.Die Gruppe proklamierte schon in ihrem Namen den Begriff der Forschung und betonte, wie auch Gruppo N, MID und Gruppo T, die Praxis der Gemeinschaftsarbeit im Gegensatz zur individuellen Kreation. In einem frühen Manifest mit dem Titel "Stop Art!" (1965) forderten sie auch die Beobachterpartizipation ein:
"Wir müssen einen Ausweg aus der Sackgasse der modernen Kunst finden.

Wenn es irgendwelche gesellschaftlichen Aspekte in der modernen Kunst gibt, muss sie den Betrachter einbeziehen. [...] Wir möchten das Interesse des Betrachters erregen, ihn frei machen, ihn entspannen. Wir wünschen seine Teilnahme. [...] Wir wünschen, daß er sich bewusst ist, daß er mitspielt. [...] Wir möchten, dass er eine Interaktion mit anderen Betrachtern anstrebt. Wir möchten mit ihm eine verstärkte Wahrnehmung und Aktion entwickeln. Ein seiner Macht bewusster und so vieler Irrtümer und Mystifikationen müder Betrachter wird fähig sein, seine Revolution in der Kunst zu machen und diesen Zeichen zu folgen: Handeln und Kooperieren." Eine kritische Rationalität, ausgebildet an geometrischer Abstraktion, konstruktivistischer und konkreter Kunst, führte dazu, die Kunst methodisch zu reflektieren. Deshalb zog man es auch vor, von "visueller Forschung" statt von Kunst zu sprechen. Die Ergebnisse der Forschung, wurden mit Ausstellungen wie Bewogen Beweging (1961, Stedelijk Museum Amsterdam, Moderna Museet Stockholm) und Arte Programmata. Arte Kinetica, opera moltiplicata, opera aperta (1962, Mailand) oder der Ausstellung The Responsive Eye (1965, Museum of Modern Art New York), aus deren Anlass der Begriff 'Op-Art' geprägt wurde, populär. Ausstellungen wie The Responsive Eye haben die Entfaltung des künstlerischen Diskurses jedoch eher behindert als gefördert, da die Rezeption, die zum Erfolg führte, die Kerninteressen der künstlerischen Bewegungen, die sich unter dem Begriff Neue Tendenzen versammelt hatten, ignorierte.
Mittlerweile hatten nämlich die Rationalisierungstendenzen in der Kunst zu einem Bündnis mit der Kybernetik und der Informationsästhetik geführt. Theoretiker wie Umberto Eco, Max Bense und Abraham Moles integrierten die semiotischen Betrachtungsweisen von Charles S. Peirce in die Kunst sowie die von dem Russen A. A. Markov und dem Amerikaner Claude Shannon entwickelten mathematischen Theorien der Informations- und Kommunikationstechnologie. Sich auf die verfügbaren Informations- und Kommunikationssysteme stützend, entstanden neue Formen einer kybernetischen Kunst, wie beispielsweise die Werke von Nicolas Schöffer. 1970 lieferten die Ausstellungen Information im Museum of Modern Art in New York und Software, Information Technology: Its New Meaning for Art im Jewish Museum, New York eine verspätete und unvollständige Version des neuen Bündnisses von Kunst mit der Informationstheorie und den Kommunikationsmedien.
Der populäre Erfolg, der auf Kosten der künstlerischen Stringenz ging, löste Mitte der 1960er Jahre eine Krise aus, die nach innovativen Wegen verlangte. Margit Rosen stellt in ihrem Aufsatz dieses Buches die Kontinuitäten und Brüche dieser Transition der NT ausführlich dar: Viele Werke der konkreten Kunst und der Op-Art waren mehr oder minder programmiert. Über das Programmieren des Visuellen publizierte Karl Gerstner bereits 1963das Buch Programme entwerfen. Doch zur Programmierung komplexerer Lösungen war es notwendig, die Hilfe von "rechnenden Maschinen" in Anspruch zu nehmen. Doch nur wenige Künstler folgten diesem neuen Weg. Die meisten Künstler, die Anfang der 1960er Jahre an den Ausstellungen der Neuen Tendenzen teilnahmen, verließen diese nach 1965 (nach Neue Tendenz 3). Im Jahr der Revolte, 1968, traten unter dem Titel Tendenzen 4: Computer und visuelle Forschung neue Akteure auf den Plan: Wissenschaftler und Ingenieure, die mit Hilfe von Computern visuelle Forschung betrieben und visuelle Werke produzierten. In diesem Jahr, 1968, wurde auch das Magazin Bit international, eine mehrsprachige Vierteljahresschrift, herausgegeben, die der 'Präsentation der Theorie der Information, der exakten Ästhetik, der Kommunikations- und Massenmedien' diente. Bis 1972 erschienen insgesamt neun Ausgaben, wovon die beiden letzten sich auch mit der konkreten Poesie und dem Fernsehen beschäftigten. Um 1968 wurde der Anbruch eines neuen Zeitalters offenbar, das nicht durch die Ankunft der mechanischen Maschine im Feld der Kunst, wie sie schon Tatlin und der Konstruktivismus praktizierten, sondern durch die Ankunft der zeichenverarbeitenden Maschine im Feld der Kunst geprägt war.

Im Sommer 1968 begannen die Tendenzen 4 mit einem internationalen Kolloquium über Computer und visuelle Forschung. Im gleichen Sommer wurde in London mit der Ausstellung Cybernetic Serendipity ebenfalls die Begegnung von Kunst und Computer vorgestellt. Auch hier war Max Bense einer der Ideengeber. Über die Ausstellung Cybernetic Serendipity im ICA London ist mittlerweile viel geschrieben worden. Die Ausstellung Bit international im ZKM | Karlsruhe ist der Versuch, die Geschichte der Kunst und Neuen Medien aus einer anderen Perspektive zu erzählen. Zu einem Zeitpunkt, 1968, als im Westen nur eine Minderheit im kulturellen Feld überhaupt wusste, was ein Bit bedeutet, nämlich die Abkürzung für binary digit (Binärziffer aus 0 und 1) als Maßeinheit für die Datenmenge (1 Bit ist der Informationsgehalt, der in einer Auswahl aus zwei gleich wahrscheinlichen Möglichkeiten enthalten ist), wurde in Jugoslawien, in einem Land am Rande des Eisernen Vorhanges, bereits eine Kunstzeitschrift mit diesem Titel publiziert.
Die Zagreber Tendenzen und ihr Programm der visuellen Forschung erlauben es, auf einmalige Weise zu zeigen, wie und aus welchen Kunstströmungen sich die Computerkunst entwickelt hat. Gleichsam wie unter einem Mikroskop kann am Beispiel der Entwicklung der Neuen Tendenzen in Zagreb in den 1960er Jahren das Entstehen der Computerkunst verfolgt werden. Es wird nachvollziehbar wie die acht Kunstbewegungen: konkrete, konstruktive, kinetische, kybernetische, konzeptuelle Kunst, Op-Art, konkrete Poesie und Computerkunst zusammenhängen, einander bedingen, sich wechselseitig beeinflussen und entfalten. Im Jahr 1969 widmete sich das Magazin bit international 5/6 unter dem Titel The Word Image und die Tendenzen 4 – Ausstellung Typoezija der "poésie concrète" und die Ausstellung Tendenzen 5 (1973) öffnete den Besuchern drei Bereiche: "Konstruktive visuelle Forschung" (von Enzo Mari bis Jesus Raphael Soto), "Visuelle Forschung mit dem Computer" (von Vladimir Bonačić bis John Whitney) und "Konzeptkunst" (von John Baldessari bis Sol LeWitt). Die oben genannten acht Kunstströmungen verdanken sich einer rationalen exakten Ästhetik.
Diese Linie der rationalen Ästhetik lässt sich in Zagreb von der Gruppe EXAT 51, von denen einige Mitglieder auch an den Neuen Tendenzen mitwirkten, bis zu Vladimir Bonačić verfolgen. Allgemeiner gesprochen, war die rationale, exakte Ästhetik schon immer mental und methodisch programmiert, aber selbst berechnet und manuellmechanisch ausgeführt. In der frühen Computerkunst wird ebenfalls mental und methodisch programmiert, aber die Ausführung geschieht elektronisch und mit Hilfe einer Maschine. Man kann also die Entwicklung der Kunst der exakten Ästhetik am Beispiel der Neuen Tendenzen so zusammenfassen: Es handelt sich in allen Fällen um programmierte Kunst, nur einmal mit und einmal ohne Computer. konkrete Kunst ist beispielsweise programmierte Kunst ohne Computer, digitale Kunst ist mit einem Computer programmierte konkrete Kunst. 1968 stellt eine Zäsur dar: den Wechsel von der ohne Computer programmierten Kunst zur mit dem Computer programmierten Kunst. Die Entwicklung der Neuen Tendenzen in Zagreb mit ihrer Entfaltung und Genese der Computerkunst ist ein einmaliges und wunderbares Fallbeispiel für die Kunstgeschichte. Die Geschichte dieser Bewegung in ihren Details darzulegen ist ein umfassendes Projekt, das mit der Ausstellung und kleinen Publikation begann, die in Graz entstand und hier in leicht überarbeiteter Form neu aufgelegt wurde. Eine Anthologie mit Texten und Werken der Jahre 1961 bis 1973 und zahlreichen Archivdokumenten ist in Vorbereitung.

Dass dieses Projekt möglich war, verdanken das ZKM | Karlsruhe und die Neue Galerie Graz einer Reihe von Institutionen und Personen: den teilnehmenden KünstlerInnen, dem MSU | Muzej suvremene umjetnosti Zagreb, namentlich Frau Snježana Pintarić und Marija Gattin; den zahlreichen LeihgeberInnen; dem Museum für Konkrete Kunst Ingolstadt; dem Projektleiter Bernhard Serexhe sowie der Ko-Kuratorin Margit Rosen; und dem Kurator Darko Fritz, der bereits 2000 mit einer Ausstellung unter dem Titel I am still alive auf das vergessene Erbe der Computerkunst in Zagreb aufmerksam machte.