Essaytext - Margit Rosen
Margit Rosen: Die Maschinen sind angekommen
Die [Neuen] Tendenzen – visuelle Forschung und Computer

Textauszug aus der ausstellungsbegleitenden Broschüre "bit international. [Nove] tendencije – Computer und visuelle Forschung, Zagreb 1961–1973", 2te veränderte Auflage, ZKM | Karlsruhe: 2007

"Viele Anhänger der N[euen] T[endenzen] haben versucht, ihrer Arbeit die Eigenschaften einer Maschine zu geben oder haben ihre Verfahren auf die Verwendung von mechanischen oder elektrischen Geräten gestützt; sie haben alle von Maschinen geträumt – nun sind die Maschinen angekommen. Und sie sind aus einer Richtung angekommen, die auf gewisse Weise unerwartet war, begleitet von Menschen, die weder Maler noch Bildhauer sind."(1)
Es war eine spezifische Art von Maschinen, die 1968 in der jugoslawischen Kunstszene eintrafen – Computer. Die Organisatoren der Tendenzen 4, der vierten Ausstellung der Künstlerbewegung Neue Tendenzen (2), hießen sie und ihre Begleiter willkommen – nicht als Fremde, sondern als Ankömmlinge, die man in gewisser Weise erwartet hatte. In dem eingangs zitierten Geschichtsmodell inszenierte der kroatische Kunstkritiker Radoslav Putar ihre Ankunft als logische Konsequenz der Entwicklung der Neuen Tendenzen seit 1961: Die unterschiedlichen Linien der Bewegung, die heute mit Begriffen wie Konkrete Kunst und Neokonstruktivismus, arte programmata, Op-Art und kinetische Kunst etikettiert werden, hatten der Integration des Computers als Instrument künstlerischen Arbeitens den Weg bereitet.
Im August 1968 begann in Zagreb mit einem Kolloquium unter dem Titel Computer und visuelle Forschung ein ambitioniertes mehrjähriges Programm, das durch Ausstellungen, Symposien und Publikationen die künstlerischen und gesellschaftlichen Potentiale dieses neuen Mediums auszuloten suchte. Künstler, Ingenieure, Natur- und Geisteswissenschaftler aus der ganzen Welt nahmen die Einladung an, das Projekt der Neuen Tendenzen, "Kunst als Forschung", fortzuführen. Zagreb wurde zu einem Initiationspunkt ästhetischer, medientheoretischer und sozialer Diskussion der Möglichkeiten computergestützter Kreation. "Computer und visuelle Forschung" steht somit für den ambitionierten Versuch, Diskurs und Praxis der Computernutzung programmatisch in den Rahmen einer bestehenden künstlerischen Bewegung zu integrieren und auf diese Weise an der Definition einer neuen Technologie mitzuwirken, von der man annahm, dass sie die Zukunft bestimmen würde.
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1968: Kolloquium und Informationsausstellung
Im August 1968 luden Božo Bek [Direktor der Galerien der Stadt Zagreb] und Boris Kelemen [Kurator der Galerien der Stadt Zagreb] zum ersten von [Abraham A.] Moles geleiteten internationalen Kolloquium Computer und visuelle Forschung(3) in das Zagreber Zentrum für Kultur und Information ein. Drei Mitglieder der NT – der Künstler Alberto Biasi, der Architekt Vjenceslav Richter und der Kunstkritiker Matko Meštrović – waren präsent, um den Dialog mit den neuen Teilnehmern des Forschungsprogramms zu beginnen. (Ein vierter Repräsentant der NT, Marc Adrian, schickte seinen Vortrag und Beispiele seiner computergestützten konkreten Poesie per Post.) Die Neuankömmlinge waren sowohl Künstler als auch Wissenschaftler und Ingenieure. [...] Die Diskussionsveranstaltung wurde von einer "Informationsausstellung" begleitet.
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1969: Das Symposium
Nach einem kleinen Informationsseminar im Januar 1969 luden die Organisatoren der Tendenzen 4 im Mai 1969 zu einem internationalen Symposium nach Zagreb ein, wiederum unter dem Titel "Computer und visuelle Forschung". Unter den Sprechern waren Künstler wie Alsleben, die Mitglieder des Art Research Center Kansas, Waldemar Cordeiro, Karl Gerstner, Leonardo Mosso und Vjenceslav Richter; eine Reihe von Vortragenden, die auch als Ingenieure oder Naturwissenschaftler ausgebildet waren – Vladimir Bonačić, Herbert W. Franke, Alfred Grassl, Zdenko Šternberg, Josef Hermann Stiegler und Božo Težak; außerdem Kunstkritiker und Geisteswissenschaftler wie Jonathan Benthall, Umberto Eco, Vera Horvat-Pintarić, Grgo Gamulin, Josef Hlaváček, Kelemen, Želimir Koščević und die Kybernetiker Renzo Beltrame und Silvio Ceccato.

1969: die Ausstellung Tendenzen 4 – Computer und visuelle Forschung
Mit dem Symposium eröffnete in der Galerie für zeitgenössische Kunst eine Ausstellung unter dem gleichen Titel: Tendenzen 4 – Computer und visuelle Forschung. Sie präsentierte eine Auswahl von Computergrafiken und computergestützen Entwürfen, mit Werken fast all jener Künstler und Wissenschaftler, von denen zu dieser Zeit international bekannt war, dass sie den Elektronenrechner für künstlerische Experimente nutzten. [...] Eine parallele Ausstellung mit beispielhaften Werken aus den ersten drei NT Ausstellungen und neuesten Forschungsbeispielen der NT eröffnete am gleichen Abend im Museum für Kunsthandwerk. Die Werke der Op-Art, der konstruktivistischen sowie der kinetischen Kunst und jene Artefakte, die mit Hilfe des Computers generiert worden waren, wurden einander nicht direkt gegenübergestellt; ein Fußweg von fünfzehn Minuten trennte die Präsentationen.

Bit international
Der Katalog zu den Ausstellungen der Tendenzen 4 erschien mit Verzögerung im Jahr 1970. Doch den Künstlern und Wissenschaftlern stand bereits seit 1968 eine neue Publikationsmöglichkeit zur Verfügung: Die Galerie für zeitgenössische Kunst lancierte eine mehrsprachige Vierteljahresschrift Bit international, deren Titel sich auf die kleinste digitale Informationseinheit, "binary digit", bezog. Sie wurde als "Magazin für die Präsentation der Theorie der Information, der exakten Ästhetik, der Kommunikations-Massenmedien."(4) Zwischen 1968 und 1972 erschienen insgesamt neun Nummern in sieben Ausgaben mit unterschiedlichen Schwerpunkten: Bit 1 – The Theory of Information and the New Aesthetics, Bit 2 – Computers and Visual Research, Bit 3 – International Colloquy Computers and Visual Research Zagreb August 3–4 1968, Bit 4 – Design, Bit 5/6 – The Word Image. Poésie Concrète. Bit 7 – Dialogue with the Machine, Bit 8/9– Television Today: Television and Culture, The Language of Television, Experiments.
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Die visuelle Forschung
Die Organisatoren der NT vermieden den Begriff der "Computerkunst" weitgehend und wählten als Leitmotiv die "visuelle Forschung". Die Idee der 'Forschung' hatte im Laufe der Jahre für die Neuen Tendenzen an Bedeutung gewonnen. 1963 wurde diese Entwicklung in einem zusätzlichen Namen der Bewegung explizit, geprägt unter der Federführung der Pariser Groupe de Recherche d'Art Visuel (GRAV): Nouvelle Tendance – recherche continuelle (NTrc).(5) Die Methoden naturwissenschaftlicher Forschung mit ihrem Anspruch auf Objektivität, Transparenz und Nachvollziehbarkeit versprachen eine neue Form künstlerischer Legitimation. In Berufung auf die Forschung distanzierten sich Künstler und Theoretiker deutlich vom Geniebegriff der Kunst und ihrer Funktion in der Nachfolge sakraler Praktiken. Die Arbeit in Gruppen, wie beispielsweise die Gruppo MID, spiegelte kollaborative Verfahren der Forschungs- und Entwicklungslabors.
Die Ästhetik sollte auf wissenschaftlicher Basis rekonstruiert werden. Die künstlerische Forschung implizierte, die "objektiven geistigen/physikalischen Grundlagen plastischer Phänomene und der visuellen Wahrnehmung"(6) zu erkunden und eine wissenschaftliche Terminologie zu entwickeln, die jede Möglichkeit eines "Interpretationsfehlers" ausschloss.(7)
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Vergleicht man die Ankündigungen der NT mit zeitgleichen Unternehmungen, wird der Anspruch des Zagreber Programms deutlich. Jasia Reichart präsentierte mit ihrer Ausstellung Cybernetic Serendipity am Londoner ICA im Sommer 1968 Konzepte und Artefakte, die im Bezug standen zu "Kybernetik und dem kreativen Prozess", betonte jedoch, dass diese Demonstration kein "programmatisches Manifest" darstelle.(8) Tendenzen 4 bot ebenfalls eine Bestandsaufnahme visueller Anwendungen des Computers, versuchte jedoch darüber hinaus, zumindest in den Jahren 1968/69, ihre programmatischen Ziele in aktualisierter Form durchzusetzen.
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Der Computer wurde zunächst als ein Werkzeug wahrgenommen, das untrennbar mit einem methodischen Produktionsverfahren verbunden war. Die Maschine legte eine Art der Bildkonzeption und -herstellung nahe, die dem Ideal der NT der rationalen Konstruktion von Kunst verwandt schien. "Die Annäherung der Computerkünstler an die Maschine ist", schrieb Radoslav Putar, gekennzeichnet durch "Formen, welche die NT seit Beginn charakterisiert haben": das "Programmieren von Vorgängen" und "programmierte Experimente".(9)
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Der Wettbewerb
Der offene Aufruf zur Einsendung von Werken für die Tendenzen 4-Ausstellung des Jahres 1969 bat um "visuelle" Werke, erzeugt mit Hilfe eines "analogen oder digitalen Computers oder anderen Instrumente dieser Art".(10) Die Realisierung der eingereichten Werke durfte automatisch oder per Hand erfolgen.
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Der Aufruf zielte auf Bilder aus unterschiedlichen Kontexten: Künstlerische Arbeiten, Entwürfe von Industriedesignern waren ebenso willkommen wie Resultate "exakter Forschungen in den Gebieten der Mathematik, Geometrie, Physik oder anderen Disziplinen". Die in der Ausstellung präsentierten Exponate sollten paradigmatisch sein für neue Arbeitsmethoden und "noch unbekannte ästhetische Situationen."(11)
Die Jury setzte sich zusammen aus Umberto Eco, Karl Gerstner, Vera Horvat-Pintarić, Boris Kelemen und Martin Krampen.
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Das Medium der Automation
Die optimistische Integration der Computertechnologie in das Programm der NT blieb [...] nicht ohne Kritik. So warf Alberto Biasi den Organisatoren vor, die Verhältnisse der kapitalistischen Ökonomie nicht zu berücksichtigen. Blind würde die NT nach einer neuen Technologie greifen, die vor allem ein Medium der Automation sei. Jede Innovation würde benutzt, "um die Ausbeutung der Arbeiterklasse fortzusetzen. Jeder hat gesehen, dass die Innovation in der Mechanisierung die größere Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zur Folge hat. Innovation und Automation haben die Mühen des Menschen nicht reduziert, um ihm größere Freiheit bei der Arbeit zu gewähren. Sie wird eingesetzt, um die Ausbeutung zu rationalisieren. Künstler können diesen Bedingungen nicht weiter gleichgültig begegnen."(12) Biasi appellierte an die Teilnehmer, den naiven Glauben aufzugeben, dass "technologische Entwicklungen und ökonomische Transformationen allein genügen würden, um graduell oder spontan den Sozialismus einzuführen" und rief dazu auf, die Studenten in ihren Kämpfen in den unterschiedlichen Ländern zu unterstützen.(13)
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Frieder Nake ermutigte in seiner Reaktion auf Biasi die Teilnehmer, den Computer nicht zu dämonisieren. So viele "Linke" wie möglich sollten mit dieser Technologie arbeiten. Das Individuum solle "schizophren" sein: "Von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags arbeitet ein Mann an einer Universität oder in einem Betrieb an einem Computer. Um 18 Uhr am Abend geht er in eine Gruppe der 'progressiven Intelligenz' und diskutiert dort über Aktionen gegen seinen Arbeitsplatz vom Vormittag."(14) Man müsse sich an das Programm der "Rationalität im Dienste am Menschen" halten.
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Tendenzen 5
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Nach einem weiteren internationalen, von Moles moderierten Kolloquium in Zagreb unter dem Titel Kunst und Computer 71 im Juni 1971 fand 1973 schließlich Tendenzen 5 statt.
Die von der Galerie für zeitgenössische Kunst am Technischen Museum Zagreb organisierte Ausstellung umfasste nun drei Sektionen: 1. Konstruktive visuelle Forschung, 2. visuelle Forschung mit dem Computer und, erstmals, 3. Konzeptkunst. [...]
Das übergreifende Thema der fünften Tendenzen lautete "Das Rationale und Irrationale in der heutigen Kunst". Vertreter der konstruktivistischen Forschung, der Computerkunst und der Konzeptkunst wurden aufgefordert, ihre Werke einzureichen und an der Diskussion über die rationalen und irrationalen Elemente ihrer Arbeitsbereiche teilzunehmen, denn nur durch "Wettbewerb und die direkte Konfrontation der Haltungen" könnten neue Werte und Ideen entstehen.(15)
[...]
Trotz aller optimistischen Äußerungen im Katalog der Tendenzen 5 kündete die Ausstellung die Auflösung der NT an. Mit einem Symposium im Jahr 1978 unter dem Titel t – 6 = Art and Society verschwanden die Neuen Tendenzen nach 17 Jahren endgültig.

Fünf Jahre lang, von 1968 bis 1973 erkundeten Künstler und Wissenschaftler aus aller Welt – die Grenzen des Kalten Krieges überschreitend – in dem international und kooperativ angelegten Projekt Computer und visuelle Forschung den künstlerischen und gesellschaftlichen Horizont der damals immer noch als neu wahrgenommenen Computertechnologie. Die Organisatoren, Künstler und Theoretiker der NT, einer Bewegung, die 1961 mit einer Ausstellung der jungen Avantgarde in Zagreb ihren Ausgang genommen hatte, hatten dafür die konzeptionellen Voraussetzungen geschaffen. Die Organisatoren der Tendenzen 4, namentlich Bek und Kelemen, entwickelten ein Programm, dass die Fortschreibung der NT in die Zukunft mit Hilfe der Computertechnologie und der Öffnung zu den Natur- und Ingenieurswissenschaften ermöglichte
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Das Ringen der NT um eine konstruktive, rationale, entmystifizierte Kunst und um Überwindung der Distanz der Kunst zum Fortschritt in Wissenschaft und Technik sowie der Entschluss, die künstlerischen Ziele und Methoden nicht vom Kunstmarkt definieren zu lassen, machten es möglich, die Kunst für eine neue Technologie und kunstfremde Protagonisten zu öffnen. Entschlossen wagten die Zagreber Kuratoren den Schritt von der "programmierten" neokonstruktivistischen Kunst und den luminokinetischen Apparaten zu Experimenten mit der symbolprozessierenden Maschine, dem Computer: um ihn für die Kunst zu erobern, aber auch um an der Definition jener Technologie mitzuwirken, die – wie Abraham A. Moles in seiner Einführung zum Kolloquium des Jahres 1968 betonte – eine größere Revolution hervorbringen werde als die Maschinenrevolution, die einst Karl Marx inspiriert habe.(16)




(1) Radoslav Putar, Einleitung ohne Titel (1969), in: Kat. Tendencije 4, Galerija suvremene umjetnosti 1970, ohne Seitenzahl.
(2) Die Bewegung, die aus der Ausstellung Nove tendencije hervorging, die 1961 in der Galerija suvremene umjetnosti stattfand, wird hier mit NT abgekürzt. Die auch inhaltlich und strukturell motivierten Variationen der Titel der einzelnen Ausstellungen – Nova tendencija [Neue Tendenz], Nouvelle Tendance–Recherche continuelle und Tendencije [Tendenzen]– werden, wenn NT sich auf die Gesamtentwicklung seit 1961 bezieht, nicht extra benannt.
(3) 03.08.–04.08.1968, Centar za kulturu i informacije, Zentrum für Kultur und Information, Zagreb.
(4) N.N., "Why bit appears", in: Bit international 1. The theory of Information and the New Aesthetics, hg. von Dimitrije Bašićević, Zagreb 1968, 5–6, 5.
(5) GRAV, die Groupe de Recherche d’Art Visuel übte großen Einfluss auf die Formulierung des Programms der NT au Von Oktober 1962 bis Januar 1963 fanden mehrere Treffen im Pariser Studio von GRAV statt; siehe Susann Scholl, "Die Neuen Tendenzen – Entwicklung einer europäischen Künstlerbewegung", in: Kat. Die Neuen Tendenzen – eine europäische Künstlerbewegung. 1961–1973, Museum für Konkrete Kunst, Ingolstadt 2007, 17–33, 20.
(6) Matko Meštrović, "ohne Titel", in: Kat. Nove tendencije 2, Galerija suvremene umjetnosti, Zagreb 1963, ohne Seitenzahl.
(7) Yvaral, zitiert in: Kat. Nove Tendencije 2, Galerija suvremene umjetnosti, Zagreb 1963, ohne Seitenzahl.
(8) Jasia Reichardt, Cybernetics, Arts and Ideas, London 1971, 12.
(9) Putar, Einleitung, [wie Anm. 1], ohne Seitenzahl.
(10) Programm-Information PI 10, November 1968, Archiv MSU | Zagreb.
(11) Ebd.
(12) Alberto Biasi, "Situazione 1967", in: Bit international 3. International Colloquium on Computers and Visual Research, Zagreb, August 3-4, 1968, hg. von Boris Kelemen und Radoslav Putar, Zagreb 1968,, 29–33, 33.
(13) Ebd.
(14) Frieder Nake, "Replik an A. Biasi", in: Bit international 3 [1968], wie Anm. 12, 35–40, 37.
(15) Radoslav Putar, "T-5", in: Tendencije 5, Kat. Galerija suvremene umjetnosti, Zagreb 1973, ohne Seitenzahlen.
(16) Abraham A. Moles, Manuskript [o. J.], wahrscheinlich 1968, Archiv MSU | Zagreb